Das Kamasutra des Vatsyayana

Ein Überblick von
Carla Geerdes

Wissenschaftliche Beratung:
Hiltrud Rüstau

Das Kamasutra im Zusammenhang

Zur Entstehung des Kamasutra

Zur Person des Autors

Leserschaft des Kamasutra

Aufbau und Inhalt des Kamasutra


Das Kamasutra im Zusammenhang

Die Literatur des alten Indien befasste sich mit einer Vielzahl von wissenschaftlichen Fragestellungen. Abhandlungen und Lehrbüchern zu Themen der Astronomie, Geometrie, Phonetik, Metrik, Grammatik, Medizin, Politik, Moral und Erotik wurden geschrieben gemäß dem Leitsatz: Wenn etwas wert ist, getan zu werden, so ist es wert, gut getan zu werden.

Nach Auffassung der alt-indischen Hindu-Weisheit dient das Leben des Menschen einem dreifachen Ziel (trivarga): Dem Streben nach

  • dem Guten dharma (Gesamtheit der tugendhaften religiösen Werke als Grundlage für Familien, Zivilrecht und Verhaltenskodex, Dharmashastra, verfasst von Manu)
  • dem Nützlichen artha (materieller Besitz, irdischer Wohlstand, Arthashastra, verfasst von Kautilya)
  • dem Angenehmen kama (Liebe und damit verbundener Sinnengenuß, Kamasutra, verfasst von Vatsyayana)

Entsprechend dem Kamasutra sollen diese Ziele im Leben des Menschen gleichberechtigt verwirklicht werden, ohne daß einem dieser Bereiche ein Vorrang eingeräumt wird. Das Streben nach einem der Ziele soll das Streben nach den anderen im Hinblick auf ein ausgefülltes und sinnvolles Leben nicht beeinträchtigen. Die Vernachlässigung eines Bereiches führt zu einer eingeschränkten Stabilität und zu einem gefährlichen Ungleichgewicht im Menschen. Das Praktizieren von dharma,artha und kama ermöglicht dem Menschen Glück und Sinnerfüllung in dieser und der darauf folgenden Welt.

Sexualität und Erotik werden als wichtiger integraler Bestandteil des menschlichen Lebens angesehen wie die Nahrungsaufnahme, dienen sie doch neben dem sinnlichen Genuß auch dem Fortbestand der Menschheit wie die Nahrungsaufnahme der Erhaltung des Körpers. Die Sinnenfreuden der Erotik und Sexualität gelten nicht nur der Lebensfreude und dem psychischen Gleichgewicht, sondern sind auch der Weiterentwicklung im geistig-spirituellen Bereich dienlich. Die Sinne werden als eine Verfeinerung des Körperlichen auf einer höheren Wahrnehmungs-und Bewußtseinsstufe angesiedelt, wobei Sexualität und Erotik in letzter Konsequenz das Geheimnis des Lebens in sich bergen.

Zur Entstehung des Kamasutra

Das Kamasutra ist altindischen Überlieferungen zufolge von Prajapati, einer lange als Schöpfergott geltenden abstrakten Gottheit, in zehntausend Kapiteln verkündet worden. Mahadeva (der Hochgott Shiva) soll es in tausend Kapitel zusammengefaßt haben, die von Shvetaketu, einem philosophischen Lehrer und Sohndes Udalaka, auf fünfhundert Kapitel komprimiert worden sind. Das Kamasutra ist von Vatsyayana in Form von sogenannten Sutrenin Sanskrit, der altindischen und bis heute lebendigen Gelehrtensprache, niedergeschrieben worden. Sutras sind Direktiven oder Gedächtnisstützen für den Eingeweihten, aphorismenhafte kurze Aussagen in Prosa, die ohne Kommentare kaum verständlich sind. Es handelt sich hierbei um vermutlich zunächst noch mündlich abgefasste Vorläufer von Lehrbüchern. Die dem Kamasutra zugrunde liegende Abhandlung des Shvetaketu ist verloren gegangen. Die heutzutage vorliegenden Übersetzungen des Kamasutra aus dem Sanskrit stützen sich auf anerkannte Kommentare aus zumeist späteren Jahrhunderten.

Zur Person des Autors

Über das Leben des Autors Mallanaga Vatsyayana liegen keine Angaben vor. Vermutlich ist das Kamasutra von ihm um 250 n.Chr. verfasst worden.

Das Kamasutra ist in geistiger Konzentration und Keuschheit des Autors entstanden, wie er am Ende betont.

Leserschaft des Kamasutra

Das Kamasutra wendet sich an den jungen, gebildeten Stadtbewohner Nagaraka, dessen Lebenswandel ein eigenes Kapitel im Ersten Hauptteil einnimmt. Es gibt aber auch zur Rolle der Frauen und zu ihrem Verhalten untereinander zahlreiche Empfehlungen. Im Kamasutra selbst werden Ganikas (Hetären), Prinzessinnen und Töchter hoher Beamter als Adressatinnen angesprochen, allerdings sollte ein Mädchen sich die die 64 Künste betreffenden Praktiken insgeheim und allein oder mit Hilfe einer Lehrerin aneignen.

Der zeitgenössische Leser oder die Leserin unserer Tage findet ein höchst informatives Sachbuch über Sexualität und Erotik, das frei von moralischen Wertungen Praktiken der sexuellen Lust und Erfüllung vorstellt und gleichzeitig interessante Einblicke in die alltägliche Lebensweise von Menschen aus historischer Zeit in einer anderen Kultur vermittelt.

Nach der Lektüre kommen sicher viele Leser zu der Überzeugung, daß nicht wenige Schriftsteller, Ärzte und Forscher vom Kamasutra inspiriert worden sind.

Aufbau und Inhalt des Kamasutra

Das Kamasutra ist in sieben Hauptteile mit fünf bis zehn Kapiteln gegliedert:

Erster Hauptteil: Allgemeines
  • Erstes Kapitel: Zusammenfassung des Lehrbuches
  • Zweites Kapitel: Erlangung der drei Güter (dharma, artha, kama)
  • Drittes Kapitel: Darlegung der Wissenschaften
  • Viertes Kapitel: Lebenswandel des Nagaraka
  • Fünftes Kapitel: Abhandlung über des Liebhabers Freundinnen und das Amt von (Liebes-) Botinnen
Zweiter Hauptteil: Auf den Geschlechtsverkehr Bezügliches
  • Erstes Kapitel: Art des Geschlechtsverkehrs nach Ausmaß (der Geschlechtsorgane), Zeitpunkt und Dauer, Variationen der Liebe
  • Zweites Kapitel: Ausführungen des Umarmens
  • Drittes Kapitel: Möglichkeiten des Küssens
  • Viertes Kapitel: Arten der Fingernagelspuren
  • Fünftes Kapitel: Spielarten von Bißspuren; Verhaltensweisen von Frauen aus den einzelnen Provinzen; Arten des dort geübten Geschlechtsverkehrs
  • Sechstes Kapitel: Stellungen beim Geschlechtsverkehr
  • Siebtes Kapitel: Arten des Schlagens und die damit verbundenen Ausführungen des Lautes sit
  • Achtes Kapitel: Sexuelle Annäherungen, bei denen die Frau die Rolle des Mannes übernimmt; Verhaltensweisen des Mannes
  • Neuntes Kapitel: Mundverkehr
  • Zehntes Kapitel: Beginn und Ende des Verkehrs; Arten des Verkehrs; koketter Streit
Dritter Hauptteil: Auf die Verbindung mit einem Mädchen Bezügliches
  • Erstes Kapitel: Verfahren bei der Brautwahl; Entscheidung über die Verbindung
  • Zweites Kapitel: Gewinnung des Vertrauens der Braut
  • Drittes Kapitel: Annäherung an das Mädchen; Erklärung von Minenspiel und Gebärden
  • Viertes Kapitel: Bemühungen, um der einzige Mann für die Braut zu sein; Erlangung eines begehrten Mannes durch das Mädchen; Erlangung des Mädchens durch das Bemühen des Mannes
  • Fünftes Kapitel: Hochzeitsfeier
Vierter Hauptteil: Auf die Rolle der Gattin Bezügliches
  • Erstes Kapitel: Verhalten der treuen Gattin
  • Zweites Kapitel: Verhalten der ältesten Gattin zu den Nebenfrauen
Fünfter Hauptteil: Auf die Gattinnen von anderen Bezügliches
  • Erstes Kapitel: Kennzeichnung des Charakters von Mann und Frau
  • Zweites Kapitel: Wege zur Bekanntschaft mit einer Frau
  • Drittes Kapitel: Erkunden der Neigungen der Frau
  • Viertes Kapitel: Aufgaben einer Liebesbotin
  • Fünftes Kapitel: Verliebtheit von Herrschern
  • Sechstes Kapitel: Über den Harem und den Schutz der eigene Frau
Sechster Hauptteil: Prostitution
  • Erstes Kapitel: Nachdenken über einen geeigneten Mann; Mittel des Zugangs zu ihm; Methoden des Gewinnens
  • Zweites Kapitel: Hingabe an den Geliebten
  • Drittes Kapitel: Mittel, um zu Geld zu kommen; Anzeichen von Gleichgültigkeit gegenüber dem Mann; Arten des Verjagens eines Liebhabers
  • Viertes Kapitel: Erneute Festigung eines locker gewordenen Verhältnisses
  • Fünftes Kapitel: Arten des Gewinns
  • Sechstes Kapitel: Betrachtungen über Gewinn und Verlust; Typen von Prostituierten
Siebter Hauptteil: Auf Geheimmittel Bezügliches
  • Erstes Kapitel: Wie man sich gewinnend macht; wie man andere bestrickt; Anwendung von Aphrodisiaka
  • Zweites Kapitel: Wiederherbeiführung verlorener Liebesfähigkeit; Wege zur Penisvergrößerung; diverse Rezepte

Quellen:

  1. Vatsyayana, Das Kamasutra, Reclam, Leipzig 1987, übersetzt von K. Mylius
  2. Kamasutra of Vatsyayana, Jaico Publishing House, Bombay 1976-1986

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